Statisches Dehnen beschreibt das Bewegen eines Gelenks bis zu seinem Bewegungsendbereich, also so weit, bis im Muskel ein spürbares Dehnungsgefühl entsteht, und das anschließende Halten dieser Position [1]. Diese Technik wird häufig eingesetzt, um die Beweglichkeit zu verbessern, und zahlreiche Studien haben belegt, dass sich die Flexibilität durch statisches Dehnen nachhaltig steigern lässt [1, 2].
In der sportlichen Praxis wird jedoch oft behauptet, dass statisches Dehnen die neuromuskulären Eigenschaften so beeinflussen könnte, dass nachfolgende Übungen, bei denen Kraft oder Power benötigt werden, darunter leiden [3]. Aus diesem Grund wird häufig empfohlen, statisches Dehnen unmittelbar vor kraftintensiven Übungen zu vermeiden, wenn eine maximale Leistung gefragt ist [3].
Dieser Artikel geht genau diesen Fragen auf den Grund. Was steckt hinter diesen Behauptungen – und was lässt sich aus der aktuellen wissenschaftlichen Lage ableiten? 😎
Inhaltsverzeichnis
Statisches Dehnen und Kraftentwicklung
Wenn du vor einer Übung, bei der viel Kraft gefragt ist, statisches Dehnen einbaust, verändert das den Zustand deiner Muskeln – und zwar auf mehreren Ebenen. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass das alleinige Durchführen statischer Dehnübungen unmittelbar vor einer Kraftbelastung dazu führen kann, dass deine Muskeln vorübergehend nicht ihr volles Kraftpotenzial abrufen können [3].
Kurzfristige Kraftreduktion durch statisches Dehnen
Bei statischem Dehnen wird eine Muskelgruppe an ihre Bewegungsgrenze geführt – oft so weit, bis ein deutliches Dehnungsgefühl entsteht – und dann für einen festgelegten Zeitraum gehalten. Bereits eine Dehnungseinheit kann bewirken, dass sich die mechanischen Eigenschaften des Muskels verändern. Konkret wird die Steifigkeit der Muskel-Sehnen-Einheit vorübergehend reduziert [2,3]. Dieser Effekt beruht auf der viskoelastischen Relaxation, also einer kurzfristigen Entspannung des Gewebes [2]. Dieser Effekt tritt vor allem bei moderaten bis hohen Dehnintensitäten auf – es braucht also einen gewissen Druck, damit das Gewebe ausreichend entspannen kann [2]. Die Skala unten verdeutlicht die Intensität beim Dehnen.
Dehnschmerz-Skala (1 = kein Schmerz, 10 = maximal auszuhaltender Schmerz)
Empfohlener Bereich: 4 bis 7
(nach links und rechts scrollen)
Diese Verringerung der muskulären Steifigkeit sorgt zwar für einen erweiterten Bewegungsbereich, hat aber den Nebeneffekt, dass die Kraftübertragung weniger effizient erfolgt. Zudem berichten Messungen, bei denen die elektrische Aktivität (EMG) der Muskeln erfasst wurde, von einer kurzfristig niedrigeren Aktivierung. Diese reduzierte Aktivierung bedeutet, dass die Nervensteuerung – also der Impuls, der dem Muskel sagt, wie viel Kraft er aufbringen soll – nach umfangreichem statischem Dehnen „gedämpft“ sein kann [3].
Ein entscheidender Punkt hierbei ist der zeitliche Faktor: Bei kurzen Dehnungen (zum Beispiel unter 30 bis 60 Sekunden pro Muskelgruppe) scheinen die Effekte oft eher minimal. Überschreitet die Dehnungsdauer jedoch etwa 60 Sekunden, zeigen wissenschaftliche Untersuchungen einen deutlich ausgeprägteren Kraftverlust. In isolierten Krafttests – wie der Messung der maximalen Kraft bei einzelnen Bewegungen – spiegelt sich dieses Kraftdefizit in einer signifikanten, messbar reduzierten Kraftproduktion wider. Die Forschung zeigt hier moderate bis starke Effekte. Diese Effekte hängen offenbar ausschlaggebend vom „Dehnvolumen“ ab – je ausgiebiger gedehnt wird, desto größer der Effekt [3].

Zusammenfassung - Warum reduziert sich die Kraft?
Die vorübergehende Verringerung der Kraft nach statischem Dehnen lässt sich in zwei Bereichen erklären [3].
Mechanische Veränderungen
Durch das lange Halten einer gedehnten Position wird das viskoelastische Gewebe (also das Zusammenspiel von Muskelfasern und Sehnen) „entspannt“. Diese Relaxation senkt die Steifigkeit, die eigentlich dabei hilft, die Muskelkraft effizient in Bewegung umzusetzen. So kann ein weniger steifer Muskel weniger direkte Kraft übertragen [3].
Neuromuskuläre Anpassungen
Zusätzlich zeigt sich, dass die Signalübertragung vom Gehirn zu den Muskeln kurzfristig schwächer wird. Die verringerte elektrische Aktivität in den Muskelzellen (also ein Rückgang der EMG-Signale) deutet darauf hin, dass die zentrale Nervensteuerung nach längerem statischem Dehnen etwas „abgeschaltet“ ist. Diese verringerte Aktivierung ist ein weiterer Grund, weshalb die Muskeln unmittelbar nach einer ausgedehnten statischen Dehnung nicht so viel Kraft entwickeln können [3].
Statisches Dehnen und Kraft in der Praxis
Wichtig ist, dass diese akuten Effekte in kontrollierten, isolierten Krafttests – etwa bei der Einzelmessung der Maximalkraft eines bestimmten Muskels – deutlich erfasst werden. Bei komplexen sportlichen Bewegungen, wie Sprüngen, Sprints oder Wurfbewegungen, bei denen mehrere Muskelgruppen zusammenwirken, zeigen sich die negativen Effekte des statischen Dehnens oft weniger stark oder können sogar durch nachfolgende dynamische und aktivierende Übungen wieder ausgeglichen werden [3]. Das kann beispielsweise bei der Planung eines Warm-ups beachtet werden [3].
Zusammenfassung und praktische Empfehlung
Kurzfristig bewirkt statisches Dehnen eine Veränderung der muskulären Eigenschaften, die zu einem messbaren Kraftdefizit führen kann – vor allem, wenn die Dehnphasen länger als etwa 60 Sekunden andauern [3].
Mechanisch sorgt die reduzierte Steifigkeit sowie eine kurzfristig verminderte neuromuskuläre Aktivierung dafür, dass die Muskeln unmittelbar nach dem Dehnen nicht ihr volles Kraftpotenzial entfalten [3].
Im Training empfiehlt es sich daher, für das Warm-up, statisches Dehnen entweder nur in kurzer Dauer oder im Anschluss aktive, dynamische Aufwärmübungen einzusetzen, um den negativen Einflüssen auf die Kraftproduktion entgegenzuwirken [3]. Im Nachgang an statisches Dehnen empfehlen sich z. B. plyometrische Übungen, wie Sprünge oder Richtungswechsel.
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Referenzen zum Beitrag "Statisches Dehnen und Kraft"
1. Ingram, L. A., Tomkinson, G. R., d’Unienville, N. M., Gower, B., Gleadhill, S., Boyle, T., & Bennett, H. (2024). Optimising the Dose of Static Stretching to Improve Flexibility: A Systematic Review, Meta-analysis and Multivariate Meta-regression. Sports Medicine, 1-21.
2. Ingram, L. A., Tomkinson, G. R., d’Unienville, N. M., Gower, B., Gleadhill, S., Boyle, T., & Bennett, H. (2025). Mechanisms Underlying Range of Motion Improvements Following Acute and Chronic Static Stretching: A Systematic Review, Meta-analysis and Multivariate Meta-regression. Sports Medicine, 1-18.
3. Warneke, K., & Lohmann, L. H. (2024). Revisiting the stretch-induced force deficit: A systematic review with multilevel meta-analysis of acute effects: Revisiting the stretch-induced force deficit. Journal of Sport and Health Science.