Statisches Dehnen und Beweglichkeit

Beweglichkeit ist die Fähigkeit, ein Gelenk oder eine Gruppe von Gelenken uneingeschränkt durch ihren verfügbaren Bewegungsbereich (Range of Motion, ROM) zu bewegen [1]. Sie ist eine Komponente der körperlichen Fitness und wird durch Übungen zur Muskeldehnung verbessert [1]. Beweglichkeit kann durch verschiedene Methoden gesteigert werden, wobei statisches Dehnen eine der am häufigsten verwendeten Techniken ist [1]. Statisches Dehnen beinhaltet das Bewegen eines Gelenks bis zu seinem Bewegungsendbereich (bis ein Dehnungsgefühl im Muskel entsteht) und das Halten dieser Position [1].

In diesem Artikel erfährst du, warum Dehnübungen vor allem die Flexibilität steigern und welche Mechanismen möglicherweise auch zu kleinen Kraft- und Leistungszuwächsen beitragen könnten. Außerdem bekommst du „Ganzkörper-Dehnübungen“ als Beispiel.🙃

Inhaltsverzeichnis

Statisches Dehnen - Hintergrund

Bevor wir uns den konkreten Übungen widmen, ist es hilfreich, einen Überblick darüber zu gewinnen, wie statisches Dehnen die Beweglichkeit steigern kann – sprich, was dabei im Körper vorgeht. Trotz der weit verbreiteten Anwendung von statischem Dehnen sind die zugrunde liegenden Mechanismen derzeit nicht abschließend geklärt. Grundsätzlich werden aber zwei zentrale Mechanismen diskutiert, die den Effekten von statischem Dehnen zugrunde liegen: Einerseits spielt das neuromuskuläre System eine wesentliche Rolle, andererseits sind es vor allem Anpassungen innerhalb der Muskel-Sehnen-Einheit. Im Folgenden konzentrieren wir uns zunächst auf die Mechanismen, die die Beweglichkeit verbessern. Die Grundlagen für die Inhalte zu den beweglichkeitsbezogenen Effekten bildet das Systematic Review u. a. mit Meta-Analyse von Ingram et al. (2025) [2].

Akute Effekte von statischem Dehnen

Bereits akute Dehnungsübungen können sozusagen sofortige Veränderungen hervorrufen. Diese Effekte sind in erster Linie funktioneller Natur und mechanisch bedingt. Bereits eine einzelne Dehnungseinheit kann zu messbaren Anpassungen in der Muskel-Sehnen-Einheit führen und so vorübergehend den Bewegungsspielraum verbessern [2].

Was passiert nach einer akuten Dehnung?

Reduktion der Steifigkeit
Eine einzelne Dehnung führt dazu, dass die Steifigkeit der Muskel-Sehnen-Einheit sinkt. Dieser Effekt beruht auf der viskoelastischen Relaxation, also einer kurzfristigen Entspannung des Gewebes. Dieser Effekt tritt vor allem bei moderaten bis hohen Dehnintensitäten auf – es braucht also einen gewissen Druck, damit das Gewebe ausreichend entspannen kann [2]. Die Skala weiter unten in diesem Beitrag verdeutlicht die Intensität beim Dehnen.

Ausgangsflexibilität und Dehnintensität
Die akute Verringerung der Steifigkeit wirkt bei Personen mit durchschnittlicher Flexibilität stärker als bei Personen mit eingeschränkter Beweglichkeit. Das legt nahe, dass weniger steife Systeme stärker auf mechanischen Stress reagieren können. Außerdem scheint es so, dass nur moderate und hohe Dehnintensitäten diesen viskoelastischen Entspannungseffekt deutlich hervorrufen. Niedrig intensive Dehnungen rufen hingegen nur minimale Anpassungen hervor [2].

Was passiert nach einer akuten Dehnung nicht?

Anpassung der Dehnungstoleranz
Bei einer Einzelsitzung zeigt sich in der Regel keine Veränderung des maximal tolerierten passiven Drehmoments. Darunter versteht man die Drehkraft, die von den Muskeln, Sehnen und Bändern während einer passiven Dehnung aufgebracht wird – also den Widerstand, den das Gelenk ohne aktive Kontraktion leistet. Da dieser Wert nicht steigt, bedeutet das, dass die unmittelbare Verbesserung der Beweglichkeit vor allem dadurch zustande kommt, dass sich das Gewebe kurzfristig entspannt (also seine viskoelastischen Eigenschaften verändert), und nicht weil die Person plötzlich in der Lage wäre, mehr Unbehagen oder Schmerz zu tolerieren [2].

Strukturelle Veränderungen
Die Länge der Muskelfaszikel ändert sich nach einer einzigen Dehnung offenbar nicht. Das zeigt, dass akute Effekte vor allem funktionell und kurzfristig sind. Echte strukturelle Anpassungen – also physikalisch messbare Veränderungen in der Länge der Muskelfaszikeln (zum Beispiel durch die Hinzufügung zusätzlicher Sarkomere in Reihe) – brauchen entweder mehr Zeit oder andere Trainingsreize [2].

Sofortige Effekte - Zusammenfassung

Nach einer einzelnen Dehnungssitzung verbessert sich die Beweglichkeit hauptsächlich durch eine mechanisch bedingte viskoelastische Entspannung. Diese Entspannung führt zu einer Reduktion der Steifigkeit der Muskel-Sehnen-Einheit und erweitert vorübergehend den Bewegungsspielraum. Dabei treten keine Änderungen in der Dehnungstoleranz oder strukturelle Veränderungen der Muskelarchitektur, wie die Länge der Faszikeln, auf.

Statisches Dehnen
Die Abbildung zeigt verschiedene Übungen zum statischen Dehnen. Zusammengestellt mit Canva Pro.

Langfristige Effekte von regelmäßigem statischen Dehnen

Im Vergleich zu den sofortigen Effekten, die hauptsächlich durch mechanische Einflüsse entstehen, führt regelmäßiges statisches Dehnen zu weiteren Anpassungen. Die anfänglichen mechanischen Veränderungen bilden die Grundlage für langfristige Anpassungen. Diese langfristigen Effekte betreffen sowohl das neuromuskuläre System als auch die kontinuierliche Veränderung der mechanischen Eigenschaften der Muskel-Sehnen-Einheit [2].

Was passiert bei regelmäßigem Dehnen?

Erhöhung der Dehnungstoleranz
Bei regelmäßigem Dehnen wird ein deutlicher Anstieg des maximal tolerierten passiven Drehmoments beobachtet. Diese Erhöhung weist auf neuronale Anpassungen hin, bei denen u. a. die Empfindlichkeit der Schmerzrezeptoren abnimmt, sodass höhere Dehnungsreize ohne übermäßige Schmerzempfindung toleriert werden können [2].

Reduktion der Steifigkeit
Auch bei chronischem Dehnen bleibt die Reduktion der Muskel-Sehnen-Steifigkeit bestehen. Während diese Anpassung vor allem mechanisch hervorgerufen wird, bildet sie den Grundbaustein, auf welchem die neuronalen Anpassungen – insbesondere die gesteigerte Dehnungstoleranz – weiterhin aufbauen [2].

Kombination von erhöhter Dehnungstoleranz und reduzierter Steifigkeit
Die kombinierte Wirkung der reduzierten Steifigkeit der Muskel-Sehnen-Einheit und der gesteigerten Dehnungstoleranz steht wesentlich im Zusammenhang mit den Verbesserungen des Bewegungsumfangs. Dieser Zusammenhang verdeutlicht, dass die langfristigen Effekte vermutlich auf einem dynamischen Zusammenspiel beider Mechanismen beruhen [2].

Wobei gibt es noch widersprüchliche Ergebnisse?

Strukturelle Veränderungen
Es gibt widersprüchliche Erkenntnisse darüber, ob regelmäßiges statisches Dehnen allein zu einer Verlängerung der Muskelfaszikellänge durch eine Zunahme von Sarkomeren in Serie führt. Während die systematische Übersichtsarbeit und Meta-Analyse von Panidi et al. (2023) [3] Hinweise darauf liefert, dass solche Anpassungen bei Menschen möglich sind – insbesondere bei Programmen mit sehr hohen Dehnzeiten (weit über 90 Minuten während der gesamten Programmdauer) und/oder hoher Intensität (bis zur Schmerzgrenze) – kommen andere Arbeiten, wie die systematische Übersichtsarbeit und Meta-Analyse von Ingram et al. (2025) [2], zu einem anderen Schluss.
Laut Ingram et al. (2025) [2] lässt sich der Widerspruch zwischen ihren Ergebnissen und denen von Panidi et al. (2023) nicht einfach mit Unterschieden in den Dehnungsparametern wie Intensität oder Umfang erklären. Einige der in Ingrams Analyse berücksichtigten Studien verwendeten ebenfalls Programme mit ähnlich hohen Umfängen (≥ 90 Minuten Gesamtzeit) und moderaten bis intensiven Intensitäten. Stattdessen verweisen die Autoren auf sogenannte Clustering-Effekte [2]: Das bedeutet, dass in der Analyse von Panidi mehrere Messungen von denselben Studien oder Personen stammen könnten, wodurch diese Daten in der Gesamtauswertung ein höheres Gewicht erhalten, als sie sollten. Solche Effekte können natürlich auch unbeabsichtigt passieren. Sie können die Ergebnisse aber künstlich verstärken oder verzerren.
Während andere Trainingsformen wie exzentrisches Krafttraining offenbar eine Verlängerung der Muskelfaszikellänge bewirken können, scheint statisches Dehnen allein diese strukturellen Anpassungen nicht unbedingt hervorzurufen [2]. Dennoch bleibt die Frage offen, ob längere oder speziellere Dehnprogramme unter bestimmten Bedingungen ähnliche Effekte erzielen könnten [2]. Für die Zukunft sind also Studien mit längeren Interventionszeiträumen und präziseren Analysemethoden erforderlich, um den Einfluss von statischem Dehnen auf die Muskelstruktur eindeutig zu beurteilen.

Langfristige Effekte - Zusammenfassung

Regelmäßiges statisches Dehnen bewirkt nicht nur die anfänglichen mechanischen Anpassungen, sondern führt auch zu neuronalen Veränderungen, die sich in einer erhöhten Toleranz gegenüber Dehnreizen zeigen. Dadurch kann der Dehnreiz kontinuierlich ausgeschöpft werden, was zu einer nachhaltig verbesserten Beweglichkeit beiträgt. Gleichzeitig gibt es widersprüchliche Befunde darüber, ob statisches Dehnen auch zu einer Zunahme der Muskelfaszikellänge – also zu mehr Sarkomeren in Serie – führt. Bei den bislang untersuchten Trainingszeiträumen, die im Durchschnitt etwa sechs Wochen umfassen, scheint dies jedoch nicht der Fall zu sein.

Gestaltung eines Dehnprogramms

Statisches Dehnen kann also kurzfristig moderate und bei regelmäßiger Anwendung langfristig deutlich größere Effekte erzielen. Dabei erscheinen insbesondere die Gesamtdauer des Dehnens pro Muskelgruppe und eine konsequente Durchführung als wichtige Einflussfaktoren. Nachfolgend schauen wir uns – angelehnt an Ingram et al. (2024) [1] – genauer an, wie du deine Beweglichkeit – akut oder nachhaltig – optimal verbessern kannst.

Statisches Dehnen für sofortige Effekte

Dehnintensität
Etwas bis deutlich spürbar (siehe Skala unten)

Gesamtdauer
4 Minuten pro Muskelgruppe

Belastungszeit pro Satz
Gesamtdauer am Stück oder in Sätzen (30 bis 60 Sekunden)

Satzanzahl
Wenn Sätze, dann z. B. 4 Sätze pro Muskelgruppe

Pausenzeit
Nach Bedarf Pause, z. B. 15 bis 30 Sekunden zwischen den Sätzen oder Seitenwechsel

Statisches Dehnen für langfristige Erfolge

Wähle die Belastungsparameter wie oben beschrieben.

Gesamtdauer pro Woche
10 Minuten pro Muskelgruppe – unabhängig von der Häufigkeit

Programmdauer
6 Wochen oder mehr

Häufigkeit pro Woche
In einer Session oder öfter – für optimale Ergebnisse sollte „einfach“ die wöchentliche Gesamtdauer passen

Weitere wichtige Aspekte

Ausgangsflexibilität
Wer anfangs weniger beweglich ist, sieht oft stärkere Verbesserungen als jemand, der bereits sehr flexibel ist.

Universelle Anwendbarkeit
Die Empfehlungen wirken bei unterschiedlichen Altersgruppen, Geschlechtern und Trainingszuständen ähnlich.

Aufwärmen
Leichtes Aufwärmen – zum Beispiel durch Gehen auf der Stelle, lockeres Joggen, Radfahren o. Ä. – kann sinnvoll sein, inbesondere, wenn du gleich mit höherer Dehnintensität starten möchtest

Dehnschmerz-Skala (1 = kein Schmerz, 10 = maximal auszuhaltender Schmerz)

1 Nichts
2 Kaum
3 Minimal
4 Etwas
5 Mäßig
6 Sprübar
7 Deutlich
8 Stark
9 Sehr stark
10 Maximal

Empfohlener Bereich: 4 bis 7
(nach links und rechts scrollen)

Praktische Ganzkörper Dehnübungen

Hintere Oberschenkel im Langsitz
Setze Dich mit ausgestreckten Beinen auf den Boden, halte den Rücken gerade und beuge Dich langsam nach vorne, bis Du eine angenehme Dehnung in den hinteren Oberschenkeln spürst.

Ganzkörper Dehnübungen Langsitz

Oberschenkelinnenseiten im Grätschsitz
Setze Dich in den Grätschsitz mit weit gespreizten Beinen und halte den Rücken aufrecht; lehne Dich langsam nach vorne oder zur Seite, um die Dehnung in den inneren Oberschenkeln zu intensivieren

Ganzkörper Dehnübungen Grätschsitz

Hüftbeuger im Ausfallschritt (kniend)
Gehe in einen Ausfallschritt, bei dem ein Knie den Boden (oder etwas Weiches) berührt, schiebe das Becken langsam nach vorne.

Ganzkörper Dehnübungen Hüftbeuger 1
Ganzkörper Dehnübungen Hüftbeuger 2

Brustdehnung am Türrahmen
Stelle Dich seitlich an einen Türrahmen, positioniere Deinen Unterarm senkrecht am Rahmen und richte den Oberarm parallel zum Boden aus; drehe deinen Oberkörper zur gegenüberliegenden Seite, bis Du eine deutliche, aber angenehme Dehnung in der Brust spürst.

Ganzkörper Dehnübungen Brust

Nacken-/Halsdehnung
Setze Dich oder stehe aufrecht, neige Deinen Kopf langsam zur Seite, sodass Dein Ohr in Richtung Schulter zeigt – dabei sollten die Schultern unten bleiben.

Ganzkörper Dehnübungen Nacken

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Referenzen zum Beitrag "Statisches Dehnen"

1. Ingram, L. A., Tomkinson, G. R., d’Unienville, N. M., Gower, B., Gleadhill, S., Boyle, T., & Bennett, H. (2024). Optimising the Dose of Static Stretching to Improve Flexibility: A Systematic Review, Meta-analysis and Multivariate Meta-regression. Sports Medicine, 1-21.

2. Ingram, L. A., Tomkinson, G. R., d’Unienville, N. M., Gower, B., Gleadhill, S., Boyle, T., & Bennett, H. (2025). Mechanisms Underlying Range of Motion Improvements Following Acute and Chronic Static Stretching: A Systematic Review, Meta-analysis and Multivariate Meta-regression. Sports Medicine, 1-18.

3. Panidi, I., Donti, O., Konrad, A., Dinas, P. C., Terzis, G., Mouratidis, A., … & Bogdanis, G. C. (2023). Muscle architecture adaptations to static stretching training: a systematic review with meta-analysis. Sports medicine-open, 9(1), 47.

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