Evidenzbasierte Medizin (EBM) ist ein systematischer Ansatz in der Gesundheitsversorgung, der darauf abzielt, die bestmöglichen Entscheidungen für die Behandlung einzelner Patienten zu treffen. Der Kern von EBM besteht darin, drei grundlegende Elemente miteinander zu verbinden: die beste verfügbare wissenschaftliche Evidenz aus klinischer Forschung, die individuelle klinische Erfahrung des Behandlers und die persönlichen Werte und Präferenzen des Patienten. Anstatt sich allein auf Tradition oder Intuition zu verlassen, nutzt EBM diesen dreiteiligen Ansatz, um eine fundierte, effektive und auf den Patienten zugeschnittene Versorgung sicherzustellen.1

Evidenzbasierte Medizin - Die Grundlagen

Stell dir EBM wie einen dreibeinigen Hocker vor. Damit er stabil steht, braucht er alle drei Beine:1

  1. Die beste verfügbare Wissenschaft: Das sind die Ergebnisse aus aktuellen, gut gemachten Studien.

  2. Die klinische Erfahrung des Behandlers: Das Wissen und die praktische Erfahrung deines Arztes, deiner Therapeutin oder deines Trainers.

  3. Deine persönlichen Werte und Wünsche: Was ist Dir wichtig? Welche Risiken oder Nebenwirkungen bist du bereit zu akzeptieren?

Evidenzbasierte Medizin kombiniert also diese drei Punkte, um die beste Vorgehensweise für dich persönlich zu finden. Es geht nicht darum, stur einem Lehrbuch zu folgen, sondern darum, Wissenschaft, Erfahrung und deine individuellen Bedürfnisse in Einklang zu bringen.1

Evidenz
Die Suche nach Evidenz. Erstellt mit Canva pro.

Wie funktioniert das in der Praxis? Die 5 Schritte der EBM

Der Prozess der evidenzbasierten Medizin folgt einem klaren Plan in fünf Schritten:1

  1. Eine klinisch relevante Frage stellen: Alles beginnt mit einer konkreten Frage, z. B.: „Welche Behandlung ist bei meinem neu diagnostizierten Bluthochdruck am wirksamsten?“

  2. Nach den besten Beweisen suchen: Der Behandler durchsucht wissenschaftliche Datenbanken nach Studien, die diese Frage beantworten können.

  3. Die Beweise kritisch bewerten: Jetzt kommt der entscheidende Punkt. Nicht jede Information hat das gleiche Gewicht. Eine einzelne Expertenmeinung ist weniger aussagekräftig als eine große, gut durchgeführte Studie.

  4. Die Beweise anwenden: Die Ergebnisse der besten Studien werden nun mit der Erfahrung der Ärztin, des Therapeuten oder der Trainerin und deinen Wünschen kombiniert, um einen Behandlungsplan zu erstellen.

  5. Die Leistung bewerten: Nach Beginn der Behandlung wird geprüft: Hat es geholfen? Waren die Ergebnisse wie erwartet? Dieser Schritt ist entscheidend, um den Prozess ständig zu verbessern. EBM ist also kein einmaliger Vorgang, sondern ein fortlaufender Kreislauf.

Die Pyramide der Qualität: Nicht jede Studie ist gleichwertig

Quality of Evidence
Je höher eine Evidenzstufe in der Pyramide, desto größer ihre Aussagekraft. Die Farben signalisieren die Evidenzstärke: Rot = gering, Gelb = mittel, Grün = hoch. Stufen: 1a = z. B. Meta-Analysen von RCTs 1b = z. B. Randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) 2 = Beobachtungsstudien 3 = Nicht-experimentelle Studien 4 = z. B. Expertenmeinungen Hinweis: Andere Klassifikationen verwenden abweichende Stufenbezeichnungen (z. B. Chen & Chi, 2023; Tenny et al., 2024). Erstellt mit Canva. [vgl. Murad et al., 2016]

Die Evidenzpyramide ist ein visueller Wegweiser, der verschiedene Studientypen nach ihrer methodischen Strenge und damit ihrer Aussagekraft ordnet. Das Grundprinzip ist einfach: Je höher man in der Pyramide aufsteigt, desto robuster ist das Studiendesign und desto geringer das Risiko, dass Ergebnisse durch systematische Fehler verzerrt werden. Gleichzeitig nimmt die Anzahl verfügbarer Studien von unten nach oben ab2 – es gibt unzählige Expertenmeinungen, aber nur vergleichsweise wenige aufwendig durchgeführte randomisierte kontrollierte Studien (RCTs) oder qualitativ hochwertige systematische Reviews und Meta-Analysen.

Hinweis: Andere Klassifikationen verwenden abweichende Stufenbezeichnungen (z. B. Chen & Chi, 2023; Tenny et al., 2024). Für diesen Artikel orientieren wir uns jedoch an der hier abgebildeten Version.

  • Stufe 4 (Die Basis): Expertenmeinungen. Die Meinung eines angesehenen Experten. Das ist ein guter Ausgangspunkt, aber die schwächste Form von „Beweis“, da sie auf persönlicher Erfahrung beruht.
  • Stufe 3: Nicht-experimentelle Studien. Dazu gehören zum Beispiel Fallserien, bei denen eine kleine Gruppe von Patienten beschrieben wird.
  • Stufe 2: Beobachtungsstudien. Gut designte Studien, bei denen Gruppen beobachtet werden (z. B. Fall-Kontroll- oder Kohortenstudien), aber die Forscher nicht aktiv eingreifen.
  • Stufe 1b (Sehr stark): Eine einzelne randomisierte kontrollierte Studie (RCT). Das ist der „Goldstandard“. Hier werden Teilnehmer per Zufall in Gruppen eingeteilt (z. B. eine Gruppe erhält das neue Medikament, die andere ein Placebo), um Ergebnisse fair vergleichen zu können.
  • Stufe 1a (Die Spitze der Pyramide): Meta-Analysen (& Systematic Reviews) von RCTs. Dies ist die stärkste Form der Evidenz. Hier werden die Ergebnisse von mehreren hochwertigen RCTs zum selben Thema statistisch zusammengefasst (und/oder in einer Übersichtsarbeit beurteilt).

*Das ist eine wirklich klassische Quality of Evidence Pyramide.2 Es gibt auch Bestrebungen die Pyramide etwas anders darzustellen, indem Meta-Analysen & Systematic Reviews losgelöst vom Rest dargestellt werden. Das spiegelt den Gedanken dahinter wider, dass Meta-Analysen & Systematic Reviews sozusagen die „Linse“ sind, mit der die Evidenz betrachtet wird.2

Die Quality of Evidence Pyramide könnte auch noch etwas mehr differenziert werden. So könnte Stufe 2 in Stufe 2a und Stufe 2b unterteilt werden, wobei 2a „nicht-randomisierte kontrollierte Studien“ umfasst und 2b gut designte Beobachtungsstudien enthält.1

Meta-Analysen & Systematic Reviews gibt es auch von nicht RCTs (eigene Anmerkung). Einzelne Studiendesigns betrachten wir an anderer Stelle.

Hürden und Fallstricke: Warum die Evidenzpyramide kein starres Regelwerk ist

Die Evidenzpyramide ist ein nützliches Werkzeug, aber man muss sie mit Vorsicht genießen. Es gibt einige wichtige Einschränkungen, die man kennen sollte.3

Qualität schlägt Quantität: Nicht jede Studie ist gleich gut

Man könnte denken, dass eine Studie von einer höheren Stufe der Pyramide (wie eine randomisierte kontrollierte Studie, kurz RCT) immer besser ist als eine von einer niedrigeren Stufe. Das ist aber nicht unbedingt der Fall.3

Stell es dir wie beim Kochen vor: Ein Rezept für eine aufwendige Torte (RCT) klingt beeindruckend. Aber wenn die Zutaten schlecht sind, die Anweisungen unklar oder der Koch unachtsam ist, kann das Ergebnis ungenießbar sein. Eine einfachere, aber perfekt gemachte Studie (wie ein gut gebackener Keks) kann in diesem Fall viel verlässlicher sein.3

Eine Studie kann zum Beispiel Mängel haben, wenn:3

  • zu wenige Personen teilgenommen haben.
  • die Teilnehmer nicht wirklich zufällig auf die Gruppen verteilt wurden.
  • die Ergebnisse unklar oder lückenhaft berichtet werden.

Das Gleiche gilt für systematische Übersichtsarbeiten an der Spitze der Pyramide: Wenn sie nur mangelhafte Studien zusammenfassen, ist auch die Zusammenfassung selbst nicht vertrauenswürdig. Es gilt das Prinzip: „Müll rein, Müll raus.“3

Was im Labor klappt, funktioniert nicht immer im echten Leben

Wissenschaftliche Studien finden oft unter idealen, kontrollierten Bedingungen statt und mit einer sehr homogenen Gruppe von Teilnehmern (z. B. nur Nichtraucher ohne weitere Erkrankungen). Die reale Welt ist aber viel komplexer.3 Eine Behandlung, die in einer Studie perfekt funktioniert hat, ist möglicherweise nicht für jeden geeignet. Faktoren wie der Lebensstil eines Patienten (z. B. Rauchen), Begleiterkrankungen (wie Diabetes oder Bluthochdruck) oder persönliche Vorlieben können die Ergebnisse stark beeinflussen. Die Wissenschaft liefert einen Durchschnittswert, aber die Medizin muss auf den einzelnen Menschen angewendet werden.3

Neue Wissensquellen: Real World Data und Künstliche Intelligenz

Die klassische Pyramide wird durch neue Technologien herausgefordert. Heute können wir riesige Datenmengen aus dem echten Leben analysieren, zum Beispiel aus elektronischen Patientenakten. Das nennt man „Real-World-Data“. Künstliche Intelligenz hilft dabei, in diesen Datenbergen Muster zu erkennen, die in kleinen Studien vielleicht nie aufgefallen wären.3 Diese neuen Methoden haben ein enormes Potenzial, um zu verstehen, wie Behandlungen im Alltag wirken. Gleichzeitig müssen wir sicherstellen, dass diese Daten zuverlässig sind und die Privatsphäre der Patienten geschützt wird.3

Verzerrungen (Bias) und menschliche Faktoren

Jede Studie ist anfällig für Verzerrungen, die das Ergebnis verfälschen können:3

  • Publikationsbias: Studien mit positiven, aufregenden Ergebnissen werden eher veröffentlicht als Studien, bei denen nichts herauskam. Das kann zu einem verzerrten Gesamtbild führen, weil die „Misserfolge“ unsichtbar bleiben.

  • Interessenkonflikte: Wenn eine Studie von einem Unternehmen finanziert wird, das ein direktes Interesse am Ergebnis hat (z. B. ein Pharmaunternehmen, das sein eigenes Medikament testet), können die Ergebnisse beeinflusst sein.

  • Methodische Fehler: Manchmal werden Studien nicht korrekt „verblindet“. Das bedeutet, die Ärzte oder Patienten wissen, wer das echte Medikament und wer ein Placebo bekommt, was das Ergebnis unbewusst beeinflussen kann.

Deshalb ist es wichtig, nicht nur auf die Art der Studie zu schauen, sondern jede einzelne Quelle kritisch zu hinterfragen.3

Evidenzbasierte Medizin
Die Suche nach Evidenz. Erstellt mit Canva pro.

Mensch statt Maschine: Warum Erfahrung und Deine Werte zählen

EBM bedeutet nicht, dass dein Arzt nur noch auf Studienergebnisse schaut und du als Patient keine Rolle mehr spielst. Ganz im Gegenteil!1

  • Die Rolle der klinischen Erfahrung: Eine Studie wird oft mit einer sehr spezifischen Gruppe von Menschen durchgeführt (z. B. 18- bis 65-Jährige). Was aber, wenn du 70 bist? Hier braucht es die Erfahrung der Ärztin, um zu beurteilen, ob die Studienergebnisse trotzdem auf dich übertragbar sind.

  • Die Rolle deiner Werte: Selbst der stärkste wissenschaftliche Beweis ist nutzlos, wenn die empfohlene Behandlung nicht zu deinem Leben oder deinen Werten passt.

    • Beispiel: Eine Studie zeigt, dass eine aggressive Chemotherapie das Leben bei einer bestimmten Krebsart von 8 auf 16 Monate verlängern kann. Wenn du aber entscheidest, dass die schweren Nebenwirkungen deine Lebensqualität zu stark einschränken würden, ist es dein gutes Recht, diese Behandlung abzulehnen.

Ist Evidenzbasierte Medizin perfekt?

Ein ehrlicher Blick auf die Kritikpunkte

Evidenzbasierte Medizin ist ein mächtiges Werkzeug, aber sie ist nicht fehlerfrei.1 Es gibt einige wichtige Kritikpunkte:1

  • Veröffentlichungs-Bias: Studien mit positiven Ergebnissen (z. B. „Medikament X wirkt!“) werden eher veröffentlicht als Studien mit negativen Ergebnissen. Das kann das Gesamtbild verzerren.

  • Nicht alles ist testbar: Man kann und muss nicht für alles eine randomisierte kontrollierte Studie durchführen. Das beste Beispiel ist der Fallschirm: Es gibt vermutlich keine randomisierte kontrollierte Studie, die zeigt, dass Fallschirme bei einem Sprung aus dem Flugzeug Leben retten. Trotzdem würden wir, denke ich, alle auf diesen „Beweis“ aus gesundem Menschenverstand vertrauen, oder? 😉

  • Zeitverzögerung: Eine gute Studie dauert Jahre. Bis die Ergebnisse veröffentlicht werden, kann die Medizin schon wieder einen Schritt weiter sein.

  • Patientenwerte werden manchmal ignoriert: Leider konzentrieren sich Behandelnde oder Trainer manchmal so sehr versteift auf die „besten Beweise“, dass sie vergessen, auf die Wünsche und Vorstellungen der Patient*innen zu hören.

Fazit für Deinen Alltag

Evidenzbasierte Medizin ist der Versuch, Gesundheitsentscheidungen so klug und fundiert wie möglich zu treffen. Sie ist eine Partnerschaft zwischen dir und deinem Arzt, Therapeuten oder Trainer, die sicherstellt, dass die Behandlung nicht nur wissenschaftlich sinnvoll ist, sondern auch zu dir als Mensch passt.

Scheue dich also nicht, Fragen zu stellen! Frage, auf welchen Erkenntnissen eine Empfehlung beruht und bringe deine eigenen Wünsche und Sorgen aktiv ein. Denn am Ende bist du der Experte für deinen eigenen Körper. 💪

Referenzen zu "Evidenzbasierte Medizin einfach erklärt"

  1. Tenny S, Varacallo MA. Evidence-Based Medicine. [Updated 2024 Sep 10]. In: StatPearls [Internet]. Treasure Island (FL): StatPearls Publishing; Available from: https://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/NBK470182/
  2. Murad, M. H., Asi, N., Alsawas, M., & Alahdab, F. (2016). New evidence pyramid. BMJ Evidence-Based Medicine, 21(4), 125-127.
  3. Vatkar, A., Kale, S., Shyam, A., & Srivastava, S. (2025). Understanding the Levels of Evidence in Medical Research. Journal of orthopaedic case reports, 15(5), 6.

Weiterführende Referenzen

  • Chen, Y. N., & Chi, C. C. (2023). Levels of evidence and study designs: A brief introduction to dermato-epidemiologic research methodology. Dermatologica Sinica, 41(4), 199-205.
  • Chandler, J., Cumpston, M., Li, T., Page, M. J., & Welch, V. J. H. W. (2019). Cochrane handbook for systematic reviews of interventions. Hoboken: Wiley.
  • Netzwerk Evidenzbasierte Medizin e.V. Arbeitsmaterialien. EBM-Netzwerk. https://www.ebm-netzwerk.de/de/service-ressourcen/ebm-basics/arbeitsmaterialien

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